Die Talschaft Domleschg, namentlich mit ihrer Haftanstalt Realta in Cazis ist eine Hochburg gewesen mit negativer Vergangenheit, was adminitrativ Verwahrte anbetrifft, welche ohne Gerichtsverfahren und ohne daß sie überhaupt irgendeine Straftat begangen hätten, weggesperrt und zu Zwangsarbeit gewzungen wurden. (DZ berichtete)

Mit einer aktuellen Veröffentlichung der Synthese ihrer Forschungsergebnisse schließt die Unabhängige Expertenkommission (UEK) ihre Arbeiten ab.

Diese historische Aufarbeitung trägt zur Rehabilitierung der Personen bei, die in der Schweiz von administrativen Versorgungen betroffen waren. Zugleich überweist die UEK ihre Empfehlungen an den Bundesrat:

Sie rät, den angestoßenen Rehabilitierungsprozeß mit weiteren Maßnahmen fortzusetzen.

Einerseits empfiehlt die UEK finanzielle Unterstützungen, um die prekären Lebensbedingungen von betroffenen Personen zu verbessern.

Andererseits schlägt die Expertenkommission vor, ein “Haus der anderen Schweiz” zu gründen. Dieser Ort soll den betroffenen Personen als Raum für den Austausch und Unterstützung dienen und verschiedene konkrete Maßnahmen der Rehabilitierung vereinen.

Nach über vierjähriger Arbeit liegen die Ergebnisse der historischen Aufarbeitung der administrativen Versorgungen in der Schweiz vor.

Die wissenschaftlichen Resultate verdeutlichen, dass es sich bei der administrativen Versorgung angesichts der langen Dauer und der großen Anzahl der betroffenen Personen um ein Phänomen von großer Tragweite handelte.

Im 20. Jahrhundert sperrten Behörden schweizweit mindestens 60 000 Menschen, ohne daß diese ein Delikt begangen haben und ohne Gerichtsverfahren, in mindestens 648 Anstalten weg.

Betroffen war ein sehr breites Spektrum von Personengruppen, die als “arbeitsscheu”, “liederlich” oder “trunksüchtig” galten.

Gemeinsam war ihnen allen eine Stellung am Rand der Gesellschaft, weil sie von den Behörden als “von der Norm abweichend” stigmatisiert waren.

Weiter verdeutlichen die Untersuchungen der UEK, daß administrative Versorgungen in der Schweiz trotz gesetzlicher Grundlagen wenig formalisiert waren. Die Entscheide über Anstaltseinweisungen und Rekurse oblagen vielfach Einzelpersonen und hatten oft willkürlichen Charakter.

Keine Straftaten, trotzdem sogar inhaftiert und in Anstalt

Die UEK zeigte zudem auf, daß die Behörden fürsorgerische Zwangsmaßnahmen in geschlossenen Anstalten einsetzten, um gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu bewältigen. Mit administrativen Versorgungen wurden vielfältige gesellschaftliche Probleme adressiert:

So wurden Versorgungen etwa im Rahmen der Armenfürsorge, zur Bekämpfung des Alkoholismus, als “polizeiliche” Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Moral oder zur “Umerziehung” von Jugendlichen und jungen Erwachsenen eingesetzt, die als “moralisch verwahrlost” galten.

In den Anstalten waren Internierte den Verantwortlichen in allen Aspekten des Alltags ausgeliefert.

Obwohl sie keine Straftaten begangen hatten, wurden sie vielerorts zusammen mit Straffälligen inhaftiert. Die UEK wies verschiedene Formen von Machtmißbrauch in Anstalten nach, die bis zu sexuellem Mißbrauch und folterähnlichen Bestrafungen reichten.

Auch der Zeitpunkt der Entlassung und die anschließenden Lebensbedingungen lagen maßgeblich in den Händen der Anstaltsdirektionen.

Viele Betroffene blieben auch nach der Entlassung im Visier der Behörden und hatten ein Leben lang mit der damit verbundenen Stigmatisierung zu kämpfen.

Der Rehabilitierungsprozeß steht erst am Anfang

Mit ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung leistet die UEK einen Beitrag zur Rehabilitierung der Personen, die in der Schweiz von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen betroffen waren. Den angestoßenen Rehabilitierungsprozeß gilt es auf verschiedenen Ebenen fortzuführen.

Als Ausgangspunkt dienen hierbei laufende Maßnahmen wie die Entrichtung von Solidaritätsbeiträgen an betroffene Personen durch das Bundesamt für Justiz sowie die wissenschaftliche Analyse von weiteren Aspekten der Schweizer Fürsorgepraxis im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms “Fürsorge und Zwang” (NFP 76).

Die UEK ist der Ansicht, dass zusätzliche Maßnahmen zur Rehabilitierung der von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen betroffenen Personen notwendig sind. Sie empfiehlt konkrete Maßnahmen.

Zusätzliche finanzielle Leistungen an betroffene Personen

Einerseits empfiehlt die UEK die Entrichtung von zusätzlichen finanziellen Leistungen an betroffene Personen – in Ergänzung zur erfolgten Soforthilfe und den Solidaritätsbeiträgen. Der Grund dafür ist, dass viele Personen, die Opfer fürsorgerischer Zwangsmaßnahmen waren, bis heute unter prekären finanziellen und gesundheitlichen Bedingungen leben.

Die Arbeiten der UEK verdeutlichen, dass es sich dabei vielfach um direkte Konsequenzen der erlittenen fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen handelt.

Die gesellschaftliche und berufliche Integration war für Betroffene infolge der Ausgrenzung und der damit verbundenen Stigmatisierung zeitlebens erschwert. Viele leiden wegen den schlechten Lebensbedingungen und den traumatisierenden Erlebnissen bis heute an psychischen und körperlichen Problemen. In dieser Situation können zusätzliche, nachhaltige finanzielle Beiträge die Lebensqualität der betroffenen Personen sachdienlich verbessern.

Konkret empfiehlt die UEK die Umsetzung von bisher nicht berücksichtigten Vorschlägen.

Dazu zählen die Abgabe von kostenlosen SBB-Generalabonnements an Betroffene, kantonale Steuererlasse für Personen mit hohen Steuerschulden infolge prekärer Lebenslagen, die Einrichtung eines Hilfefonds zur Deckung von nicht-versicherten Gesundheitskosten sowie Anrecht auf eine lebenslange Sonderrente. Die Unabhängige Expertenkommission empfiehlt außerdem, die Frist für die Einreichung von Gesuchen um Solidaritätsbeiträge gänzlich aufzuheben.

Ein “Haus der anderen Schweiz” als Ort der Rehabilitierung

Andererseits empfiehlt die UEK langfristige Maßnahmen, welche die Rehabilitierung der betroffenen Personen in verschiedener Form fördern.

Zu diesem Zweck könnte ein Ort geschaffen werden, der den Personen, die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen waren, gewidmet ist: ein “Haus der anderen Schweiz”, das verschiedene Aufgaben unter einem Dach vereint.

Mit Ausstellungen und Veranstaltungen könnten die betroffenen Personen an diesem Ort die Thematik selbstbestimmt und aus ihrer Perspektive einem breiten Publikum vermitteln. Um ihren Anliegen Gehör verschaffen zu können, sollten die betroffenen Personen auch bei der Ausübung ihrer politischen Rechte unterstützt werden.

Ein “Haus der anderen Schweiz” böte dazu die notwendige Infrastruktur sowie Raum für Beratung und Austausch.

Im Weiteren empfiehlt die UEK, dass dieser Ort den Betroffenen kostenlosen Zugang zu Bildungsangeboten sowie zu kulturellen Aktivitäten ermöglicht. Ein solches “Haus der anderen Schweiz” könnte zudem als Ort der Erinnerung an die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen wirken sowie als Ausgangspunkt für neue partizipative Forschungsinitiativen dienen, um das Wissen über die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen zu erweitern.

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