In Cazis setzte man nicht erst heute, wo man gegen Geld Häftlinge aus anderen Kantonen importiert, auf diese Art von Geschäft, was von Lokalpolitikern als lukrativ gepriesen wird, sondern bereits früher nahm man “Gelegenheiten” wahr und verdiente, allerdings anders, mit Verwahrten, die u. a. zu Zwangsarbeit herangezogen wurden.

Auch aktuell wirbt das neue Gefängniß bei der Wirtschaft mit billigen Arbeitskräften und dies sogar in extra gedruckten Broschüren.

Wobei natürlich die heutigen Verhältnisse nicht ansatzweise mit den früheren zu vergleichen sind, als damit verdient wurde, daß die Internierten zu Zwangsarbeit im Obsttal Domleschg, z. B. in Realta oder Rodels eingesetzt wurden.

Im Zuge des Neubaus der Justizvollzugsanstalt Cazis-Tignez mußte nun der Archäologische Dienst Graubünden im Jahr 2016 den Anstaltsfriedhof mit 103 Gräbern aus dem 19. und 20. Jahrhundert ausgraben.

Die nun veröffentlichten Untersuchungen ermöglichen erstmals einen differenzierten Einblick in die damaligen Lebensbedingungen und den gesundheitlichen Zustand dieser zwangsweise verwahrten Menschen am Rande der Gesellschaft.

Als Reaktion auf die weit verbreitete Armut entwickelte sich in der Schweiz im 19. Jahrhundert ein System der Zwangshilfe.

Damals wurde angenommen, daß Armut auf das Fehlverhalten eines Einzelnen und nicht auf strukturelle, wirtschaftliche oder politische Umstände zurückzuführen sei.

Menschen, deren Lebensstil von der gewünschten Norm abwich oder die nicht in der Lage waren, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten und deshalb der Familie oder der Gemeinde zur Last fielen, wurden unfreiwillig in Institutionen wie Arbeits- und Armenhäusern in Verwahrung genommen (administrative Versorgung).

Administrative Versorgung – Die Korrektionsanstalt Cazis-Realta

Vor diesem Hintergrund wurde in Cazis ab 1854 die “Kantonale Korrektionsanstalt Realta” errichtet und für verstorbene Insaßen dieses Neubaus ein eigener Friedhof angelegt.

Anhand der überlieferten Anstaltsregister sind die Namen und weitere Daten vieler Personen bekannt, die während ihrer Zeit in der Anstalt verstarben und dort beerdigt wurden.

Die Quellen bezeugen ein breites Spektrum an Zwangsversorgten mit Frauen und Männern beider Konfessionen, unterschiedlichen Alters und auch außerkantonaler Herkunft.

Neben Menschen, die als “liederlich” oder “arbeitsscheu” kategorisiert wurden, finden sich auch Insaßen, die als “irre” bezeichnet wurden.

Der Friedhof selbst wurde bis kurz nach 1910 benutzt und spätestens in den 1930er Jahren vollständig aufgegeben.

Im Zuge des Neubaus der Justizvollzugsanstalt Cazis Tignez und einer damit verbundenen Totalzerstörung der Begräbnisstätte mußte der Archäologische Dienst Graubünden im Jahr 2016 den historischen Anstaltsfriedhof archäologisch untersuchen.

Bei dieser Rettungsgrabung wurden 103 Körperbestattungen in einfachen Holzsärgen aus dem Zeitraum von circa 1858 bis in die 1910er Jahre geborgen.

Foto Ausgrabungen in Cazis-Realta bzw. Cazis-Tignez: Archäologischer Dienst Graubünden

Foto Ausgrabungen in Cazis-Realta bzw. Cazis-Tignez: Archäologischer Dienst Graubünden

Infektionen, Traumata, Behinderungen, Mangelernährung

Von Beginn an bot diese vergleichsweise junge archäologische Fundstelle die einmalige Möglichkeit, historische, archäologische und anthropologische Quellen zu einem wichtigen und sensiblen Kapitel der Schweizer und Bündner Geschichte miteinander zu verknüpfen.

Die nun veröffentlichte Studie über pathologische Veränderungen am Skelettmaterial der Toten erlaubt es, mögliche körperliche Ursachen und Auswirkungen der administrativen Versorgung in Cazis differenzierter zu bewerten.

Skelettserien zeigen Auffälligkeiten

Dabei lieferten Skelettserien von regulären zeitgenössischen Friedhöfen wichtige Referenzdaten für die allgemeine Bevölkerung und ermöglichten so, Auffälligkeiten in der Gruppe von Cazis-Realta zu erkennen.

Mögliche Fälle von Stickler-Syndrom, Mikrozephalie, angeborener Syphilis, endemischer Hypothyreose und traumatisch bedingten Behinderungen waren möglicherweise der Grund für die Marginalisierung und Anstaltseinweisung der betroffenen Personen.

Markant häufigere Tuberkulose

Die markant erhöhte Häufigkeit von Tuberkulose war mit dem sozioökonomischen Status und den Lebensbedingungen in der Einrichtung verbunden.

Mehrere Fälle von Skorbut und Osteomalazie können auf verschiedene Risikofaktoren wie Armut, Alkoholismus, psychische Erkrankungen oder den Anstaltsaufenthalt zurückzuführen sein.

Gewalt: Massiv viele Knochenbrüche

Die Frakturraten insbesondere der Rippen waren extrem hoch.

Ein großer Teil dieser Knochenbrüche verheilte nur unvollständig und trat wahrscheinlich während der Verwahrung aufgrund von interpersoneller Gewalt auf.
Zu den hohen Frakturraten trugen auch Grunderkrankungen wie Osteoporose und Osteomalazie bei.

Neue Aspekte der Zwangsfürsorge durch die Archäologie

Die schweizweit erste Untersuchung an Skeletten aus einer historischen Institution für administrative Verwahrung verdeutlicht, wie vorbestehende gesundheitliche Einschränkungen und die Zugehörigkeit zur Unterschicht zur Anstaltseinweisung beitrugen.

Zudem zeigt die Studie auf, wie diese Anstaltseinweisungen zu einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit führten.

Damit werden durch die Archäologie neue Aspekte der Zwangsfürsorge beleuchtet, die aufgrund der mangelnden historischen Überlieferung bisher kaum berücksichtigt wurden.

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